Wiederherstellung der Handfunktion mit intelligenter Neuroorthese

Eine Bandage an einer Hand, die elektrische Aktivität der Haut misst.
An der Professur für Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing forscht ein Team an intelligenten Neuroorthesen, die Menschen mit eingeschränkter Handfunktion unterstützen. (Bild:FAU/ Juniorprofessor für Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing)

FAU-Forscher wirbt 1,3 Millionen Euro für zwei Medizintechnik-Projekte ein

Menschen mit eingeschränkter Handfunktion sollen schon bald von einer intelligenten Neuroorthese unterstützt werden, um wieder ein unabhängiges Leben führen zu können. Prof. Dr. Alessandro Del Vecchio, Neurowissenschaftler an der FAU, widmet sich diesem Ziel in gleich zwei neuen Projekten und wird dafür vom Freistaat Bayern mit über 1,3 Millionen Euro gefördert. Schwerpunkt der Forschung in den kommenden drei Jahren ist die drahtlose Messung von Muskelimpulsen und die KI-gestützte Umsetzung der Bewegungsabsicht.

Rund 50 Millionen Menschen weltweit leiden unter neuromotorischen Beeinträchtigungen der Hand aufgrund einer Rückenmarksverletzung oder eines Schlaganfalls. Dieses Handicap schränkt die Betroffenen bei der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens enorm ein. „Die Medizintechnik hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht – beispielsweise konnte gezeigt werden, dass Neuroorthesen die Hände gesunder Menschen bewegen können“, sagt Prof. Dr. Alessandro Del Vecchio, Leiter des Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing Laboratory (N-squared Lab) an der FAU. „Allerdings gibt es noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf hinsichtlich der Feinmotorik, etwa um einzelne Finger einer gelähmten Hand zu bewegen.“

NeurOne – drahtlose Messung von Muskelimpulsen

In gleich zwei neuen Projekten will Del Vecchio – in Zusammenarbeit mit Dr. Matthias Ponfick, Chefarzt des Querschnittzentrums im Krankenhaus Rummelsberg, und Prof. Dr. Thomas M. Kinfe, Leiter der Funktionellen Neurochirurgie und Stereotaxie des Universitätsklinikums Erlangen – diese Forschung maßgeblich vorantreiben und Lösungen entwickeln, mit denen Betroffene wieder ein selbstständiges Leben führen können. „Bei den meisten Geschädigten besteht nach wie vor eine neuronale Verbindung zwischen Hirn und Muskeln“, erklärt Dominik Braun, wissenschaftliche Hilfskraft am N-squared Lab. „Das bedeutet, die Muskeln reagieren auf Signale, sind jedoch nicht in der Lage, die Gliedmaßen zu bewegen.“ Genau hier setzt die Erlanger Forschungsgruppe an: Im Verbundvorhaben NeurOne soll in Kooperation mit der Münchner Noxon GmbH eine flexible und tragbare Neurobandage entwickelt werden, die die elektrische Aktivität der Haut und damit selbst kleinste Muskelbewegungen misst. Dabei kommt eine neue, innovative Drucktechnik zum Einsatz: Die Elektroden und Leiterbahnen können hauchdünn auf klassische Textilien aufgebracht und deshalb beispielsweise in ein T-Shirt integriert werden. Ergänzt wird die Sensorik durch ein sogenanntes Brain-Computer-Interface, das die aufgenommenen neuronalen Signale KI-gestützt dekodiert und daraus die Bewegungsabsicht der Patientinnen und Patienten ableitet. Braun: „Mit NeurOne schaffen wir die Schnittstelle zu mechanischen Systemen, die die Betroffenen bei ihren Bewegungen im Alltag unterstützen.“

GraspAgain – Neuroorthese stellt Handfunktion wieder her

Wie solche mechanischen Unterstützungssysteme aussehen können, soll im Projekt GraspAgain demonstriert werden. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Fertigungsautomatisierung und Produktionssystematik (FAPS) der FAU will das N-squared Lab eine Neuroorthese entwickeln, die die Handfunktion soweit wiederherstellt, dass die Betroffenen mehr als 90 Prozent der Alltagsaufgaben selbstständig erledigen können. „Unser Ziel ist es, die Finger und den Daumen der Hand unabhängig voneinander und mit großer Kraft zu bewegen“, erklärt Dominik Braun. Erreicht werden soll das über Seilzüge, die an einer weichen, extrem leichten Fingerhülle befestigt sind. Steuerungselektronik, Aktoren und Stromversorgung sollen als kompakte Einheit in einen Rollator, Rollstuhl oder Rucksack integriert werden, damit die Patient/-innen mobil bleiben. „Die Neuroorthese wird mit unserem Brain-Machine-Interface kombiniert, das die Bewegungsabsicht der Betroffenen in vier Freiheitsgraden ermittelt“, sagt Alessandro Del Vecchio. „Am Ende entsteht ein effektives Hilfsmittel mit hohem Tragekomfort, das den Betroffenen zu einer größeren Selbstständigkeit verhilft, die Lebensqualität deutlich erhöht und letztlich auch die Pflegekassen entlastet.“

FAU: Innovationsstandort für KI in der Medizin

Beide Projekte starten am 1. Oktober 2023 und werden vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie finanziert. Für NeurOne konnten im Rahmen der Förderlinie „Lifescience – Medizintechnik“ 833.000 Euro eingeworben werden, GraspAgain gewann den mit 500.000 Euro dotierten „Medical Valley Award“. Die Förderungen sind einmal mehr Beweis der besonderen Expertise der FAU als Innovationsstandort und Knotenpunkt für Künstliche Intelligenz in der Medizin. Die Juniorprofessur von Alessandro Del Vecchio wurde am Department Artificial Intelligence in Biomedical Engineering (AIBE) eingerichtet. Das AIBE ist Ende 2019 im Rahmen Hightech Agenda Bayern entstanden und arbeitet interdisziplinär und fachübergreifend an der Schnittstelle zwischen Medizin und Ingenieurwissenschaften.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Alessandro Del Vecchio
Neuromuscular Physiology and Neural Interfacing Laboratory
alessandro.del.vecchio@fau.de